Teil 1 – Das „nie wieder“ geschieht jetzt
Zar Wladimir der Große oder Wladi, das kleine Tätzchen? Mehr dazu in Teil 2: Schafft Wladimir es schneller als Greta?
Droht das Ende der Geschichte?
Neunzig Jahre nach dem Holodomor wird die Ukraine wieder zum Land des großen Hungers, achtzig Jahre nach dem Massaker in Babyn Jar abermalig zum Bloodland – zerrieben wie schon damals zwischen dem Osten und dem Westen. Unvorstellbare Gräueltaten wider alle Menschenrechte und jenseits aller Menschlichkeit finden 77 Jahre nach Ende des 2. Weltkrieges erneut statt. Nach so vielen Jahren führt uns ein brutaler Vernichtungskrieg mitten in Europa die Fragilität des so sicher geglaubten Friedens unübersehbar vor Augen.
Die größten Truppenbewegungen seit dem 2. Weltkrieg, der größten Armee seit dem 2. Weltkrieg führen zu den größten Flüchtlingsströmen seit dem 2. Weltkrieg – tragische Superlative, auf die wir sämtlich verzichten können. 45 Millionen Menschen werden terrorisiert, über 10 Millionen von ihnen sind bereits auf der Flucht, mehr als 20.000 haben ihr Leben gelassen – unzählige Einzelschicksale, die niemals in Worten beschrieben werden können. Die Nachbarländer sind in Angst, der ganze Rest der Welt ist schockiert.
Soweit die historische Dimension des Krieges gegen die Ukraine, der nicht nur aufgrund seiner Gnadenlosigkeit bereits als Beginn einer Zeitenwende tituliert wird.
Der Präsident der Russischen Föderation, Wladimir Wladimirowitsch Putin (ein ehemaliger KGB Agent, der in diesem Jahr 70 wird) lässt Abramowitsch an Selenskyj folgende Botschaft überbringen: „Richte ihm aus, ich werde ihn vernichten“. Dem ihn huldigenden Volk im Moskauer Luschniki-Stadion hingegen berichtet er, in seiner Loro Piana Jacke, Jesus` Lieblingsjünger Johannes zitierend, von der größtmöglichen Liebe, mit der seine militärische Spezialoperation die Ukraine vom Leiden befreit – und wird frenetisch gefeiert. Die Ukraine würde auf diese Art von Liebe gerne verzichten.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Oleksandrowytsch Selenskyj (ein ehemaliger Standup-Comedian) fordert im Tarnfleck die Unterstützung des Westens und warnt den Rest der Welt, dass dies kein Krieg gegen die Ukraine sei, sondern ein Krieg der Tyrannei gegen die freie Welt. Ronald Reagan zitierend, fordert er die Mauer zwischen der Ukraine und dem Westen einzureißen: „Tear that wall down.“ Außer der kolportierten ebenso engen Verbindung zu Oligarchen und seinem Vornamen weist er keine weiteren Gemeinsamkeiten zu seinem russischen Pendant auf.
Der amerikanische Präsident Joseph Robinette Biden (ein ehemaliger Rechtsanwalt, der in diesem Jahr 80 wird) verkündet im Warschauer Königsschloss an der Seite der Ukraine zu stehen und verspricht der NATO, dass der Beistand eine sakrale Verpflichtung sei und die Bündnispartner mit geballter Macht verteidigt werden. GI Joe hat es besonders heilig. In seiner Botschaft an Putin, den er einen Kriegsverbrecher und sicherlich nicht nur zufällig auch einen „butcher“ nennt, bittet er, göttlichen Beistand erflehend: „Um Gottes willen, dieser Mann kann nicht an der Macht bleiben."
Soweit die Protagonisten. Zwei white old men und zwischen diesen beiden „Polit-Dinosauriern“ ein 44-jähriger Komiker, der den ersten Diener des ukrainischen Volkes vor 2019 nur im TV gespielt hat. Diese drei bestimmen vielleicht das Schicksal dieser Welt. Auch die Nebenrollen sind (u. a. mit Xi, Modi, Johnson, Macron, Scholz und dem Papst) prominent besetzt.
Der Krieg zwischen der Ukraine und Russland oder besser gesagt der russische Feldzug gegen die Ukraine ist nicht nur Putins Versuch das großartige Russkij Mir = die Russische Welt mit ihm als großen Alleinherrscher wiederherzustellen, sondern ein Kampf der zwei Systeme, der mit unglaublicher Brutalität auf dem Rücken der Menschen ausgetragen wird. Joe Biden drückte es bei seinem Besuch in Polen mit folgenden Worten aus: „Es geht um eine große Schlacht zwischen Demokratie und Autokratie, zwischen Freiheit und Unterdrückung, zwischen einer regelbasierten Ordnung und einer, die von brutaler Gewalt bestimmt wird.“
Diese Schlacht wird in der Ukraine ausgetragen und hat schon zahllose Menschen das Leben gekostet. Eigentlich schien der Kalte Krieg doch spätestens mit dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung Deutschlands bei gleichzeitigem Kollaps der Sowjetunion zu Ende gegangen zu sein, schien das westliche Modell von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten gegen die kommunistische Tyrannei obsiegt zu haben, schien, wie Fukuyama es in seinem gleichnamigen Buch ausdrückte, das Ende der Geschichte angebrochen zu sein.
Aber ausgerechnet der ehemalige Chef des russischen Geheimdienstes, der die Montagsdemonstrationen in Dresden 1989 live miterlebt hat, schreibt nun die Geschichte neu. Er hält dem Westen gut 30 Jahre später seine größten Schwächen und seine energiehungrige Verlogenheit mit einer neuen Wahrheit gnadenlos vor Augen: Das „Nie wieder“ ist zum „Wieder!“ geworden und mit dem russischen Feldzug kommt auch der Kalte Krieg zurück. Putins geplante Einverleibung der Ukraine in die Russkij Mir und die Kriegsverbrechen an der ukrainischen Bevölkerung sind Teil eines epochalen Wandels, der die Welt 50 Jahre nach Kuba erneut in den atomaren Abgrund blicken lässt.
Soweit das Drama.
Denn in seiner Brandrede zur Kriegserklärung sagte Putin wörtlich: Wer sich einmische, „muss wissen, dass Russlands Antwort sofort erfolgen und Euch zu Konsequenzen führen wird, die Ihr in Eurer Geschichte noch nie erlebt habt.“ Die Eskalationsdominanz (die sich durch die Realität zunehmend bestätigt) hat er nicht zuletzt deswegen klar auf seiner Seite. Es scheint, als drohe im besten Fall, wie schon im Donbass, ein jahrelanger Stellungskrieg ála Verdun oder die baldige Kapitulation der Ukraine.
Sollte sich die Krise hingegen ausweiten, muss nur noch einer den Knopf drücken und der nukleare Holocaust und der darauffolgende atomare Winter vernichten Europa, vielleicht das gesamte menschliche Leben – und das sogar noch vor dem Klimawandel. Eine Ironie der Geschichte. Die Erderwärmung wäre gestoppt - und das noch FDP gemäß, mit technischen Mitteln – es würde sogar kälter statt wärmer. Leider etwas zu frisch. Ein Treppenwitz, über den sich keiner amüsieren könnte, denn es ist ja niemand mehr da. Vielleicht ein paar noch, die nicht verstrahlt sind und in Bunkern oder auf tropischen Inseln überlebt haben. Aber denen ist dann sicher nicht nach Lachen zumute.
Soweit ein möglicher Ausblick.
Bange hoffend, dass dieser schreckliche Zynismus nie von der Realität eingeholt wird, sitze ich heute hier in meiner Küche und schreibe diese Worte. Es ist angenehm warm und die morgendliche Sonne scheint mir direkt ins Gesicht. Nicht nur sie wärmt mein Herz und mich, für Komfort sorgen auch einige Kubikmeter Erdgas, wahrscheinlich aus russischen Gasfeldern und noch durch die Ukraine transportiert. Zudem das Gefühl von relativer Sicherheit. Ich habe ein Dach über dem Kopf, etwas zu essen und zu trinken und der Strom fließt aus der Steckdose (zum Teil noch aus russischer Kohle produziert). Vor der Türe steht mein Diesel (noch betrieben mit russischem Erdöl) und im Garten zwitschern die Vögel. Die Sirene hört man nur als Test, immer am ersten Samstag im Monat um 13 Uhr. Doch nur gut 1000 km weiter östlich, liegt die polnische Grenze zur Ukraine. Sie liegt nicht viel weiter weg von Deutschland, als München von Kiel entfernt ist. Kinschal, der russische Dolch, die erste Hyperschallrakete, die jemals in einem Krieg eingesetzt wurde, hat nur wenige Kilometer von dieser Grenze eingeschlagen.
Die Finanzkrise wurde von der Europakrise, die Europa- von der Flüchtlingskrise, die Flüchtlingskrise von der Klimakrise und die Klimakrise von der Coronakrise abgelöst - und diese wiederum (zumindest als Topthema in den Talkshows und Medien) nahtlos vom Ukrainekrieg. Carlo Masala, Politikwissenschaftler und der „Christian Drosten der Ukrainekrise“ schrieb schon 2016 in seinem Buch „Weltunordnung – Die globalen Krisen und das Versagen des Westens“, dass der Export des westlichen Modells gescheitert sei. Er sehe die Zeit der stabilen Ordnungen zu Ende gehen. Die Schlagzahl erhöht sich, mehr Krise geht fast nicht mehr und jetzt merken auch wir es: Krise ist das neue Normal – Atempausen gibt es nicht mehr.